AG Straßennamen

In den letzten Jahren kam es bundesweit in vielen Städten in der Bürgerschaft und in politischen Gremien zu einer diskursintensiven Auseinandersetzung mit Straßennamen, die aus heutiger Sicht Anlass zu Bedenken geben. Der Deutsche Städtetag rät Kommunen in seiner Handreichung „Städtenamen im Fokus einer veränderten Wertediskussion“ zur Schaffung eindeutiger Entscheidungsgrundlagen, die das Vorgehen bei der Benennung und Umbenennung von Straßen einheitlich gestalten.

Mit der „Richtlinie zur Benennung von öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen in Gütersloh“ wurde für Gütersloh eine solche Grundlage geschaffen, die im Juni 2021 politisch beschlossen wurde. Die Richtlinie war unter der Mitarbeit und Beratung der „AG Straßennamen“ entwickelt worden und baut gleichzeitig auf der o.g. Handreichung des Deutschen Städtetags auf.

Straßennamenportal Gütersloh

ONLINEPORTAL

Erläuterung zum Portal:

Die Idee kam Hubert Kochjohann, als er seinem Enkel bei einem Spaziergang durch Gütersloh die Straßennamen erklären wollte. Mit einer einfachen Excel-Tabelle, welche auf den Daten der Stadtreinigung basierte fing alles an. 1076 Straßen wurden zusammengestellt und mit verschiedensten Kategorien erklärt, analysiert und näher betrachtet.

In Zusammenarbeit mit dem städtischen Fachbereich Digitalisierung und Geoinformation wurde daraus im vergangenen halben Jahr ein Online-Portal erstellt. Das Portal ist über dem obenstehenden Link abrufbar.

 

Wer ist die AG Straßennamen?

  • Eckard Möller
  • Almuth Wessel
  • Benjamin Lehmann
  • Martin Kosfeld
  • Helmut Hollen
  • Dr. Franz Jungbluth
  • Klaus Heitland
  • Hubert Kochjohann
  • Thomas Ostermann
  • Felix Tiemann
  • Julia Kuklik
  • Simone Hanneforth

Infos zum Nettelbeckweg

In der Sitzung des Kulturausschusses am 23. April 1964 wurde auf Vorschlag des Heimatvereins Gütersloh ein Stichweg nach „eingehender Aussprache“ neben mehreren weiteren Straßen nach Joachim Nettelbeck benannt. Als Begründung heißt es „Nettelbeck machte sich im Jahre 1807 als Bürger von Kolberg bei der Belagerung der Stadt durch die Franzosen verdient; das Drama „Kolberg“ von Paul Heyse erinnert an dieses Ereignis“.

Nettelbecks Handlungen im Jahr 1807 werden in diesem Werk als etwas „Verdienstvolles“ dargestellt. Fakt ist, dass Nettelbeck entscheidend dazu beigetragen hat, dass Kolberg in einem bereits verlorenen Krieg gegen Napoleon nicht kapitulierte. Nettelbeck wollte auf diese Weise die Ehre von „König und Vaterland“ retten. In seiner Autobiographie aus dem Jahre 1822 berichtet er stolz davon, wie er kapitulationswilligen Mitbürgern mit dem Tod gedroht hat.

Aus einer nationalistischen Perspektive handelt es sich bei Nettelbecks Aktionen um ein „Verdienst“, beziehungsweise um eine Heldentat, die entsprechend erinnert werden muss. Aus einer Nationalismus-kritischen Perspektive erscheint dieses Tun dagegen als Unterstützung und Glorifizierung von sinnlosem Sterben. Dass die Nationalsozialisten Nettelbeck ins Zentrum ihres Durchhaltefilms „Kolberg“ gestellt haben – Propagandaminister Goebbels legte großen Wert darauf, dass der Star-Regisseur Veit Harlan einen, wie er in seinen Tagebüchern schreibt, „Nettelbeckfilm“ drehte – ist aus dieser Perspektive der Endpunkt einer nationalistischen Mythenbildung.

Insofern ist auch das 1865 von Paul Heyse geschriebene Drama „Kolberg“, an das der erwähnte Propagandafilm anknüpft, kein neutraler Text. In seinem Zentrum steht ein fiktiver Charakter namens Heinrich, der von Nettelbeck und dem Festungskommandanten Gneisenau mit vereinten Kräften dazu gebracht wird, seinen rationalen, pazifistischen und weltoffenen Ansichten abzuschwören und den „Tod für das Vaterland“ auf sich zu nehmen. Nettelbeck und Gneisenau ersinnen sich die – in Heyses Augen – denkbar schwerste Strafe für Heinrichs Versuche, eine Kapitulation Kolbergs zu bewirken, nämlich, dass ihm die „Schmach“ zuteilwerde, als einziger zu überleben. Dies wiederrum löst bei Heinrich den inneren Bekehrungsprozess aus.

Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) hat als Seefahrer verschiedene Positionen bekleidet. Er war Matrose, Offizier und Schiffseigner und verdiente später seinen Lebensunterhalt als Bierbrauer in seiner Heimatstadt Kolberg. Zwischen 1770 und 1772 war er als Obersteuermann auf niederländischen Schiffen an der Versklavung von bis zu 750 Menschen beteiligt. In dieser Funktion wickelte er den Kauf und Verkauf der Menschenware ab und sorgte für „Ordnung“ auf den Versklavungsschiffen. Zwischen 1776 und 1815 versuchte Nettelbeck drei preußische Könige zum Erwerb von Kolonien zu bewegen, darunter Sklaverei-basierte Plantagenkolonien in der Karibik und ein Versklavungsstützpunkt in Westafrika. In seiner in den frühen 1820er Jahren erschienenen Autobiographie distanzierte er sich halbherzig und selbstentlastend vom Versklavungshandel mit den Argumenten, es sei der Geist der Zeit und nicht so schlimm gewesen und er persönlich habe sich nichts zu Schulden kommen lassen. Seine Autobiografie erscheint mehr als ein Jahrzehnt nachdem die Briten die Sklaverei verboten hatten.

In der späteren nationalistischen Verehrung als „Held von Kolberg“ wurde Nettelbeck teils auch als Kolonialpionier gefeiert. Seine Verwicklung in den Versklavungshandel wurde dagegen durchweg entweder verschwiegen oder relativiert. In der NS-Zeit wurde Nettelbeck sogar zu einem Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei erklärt.

2023 setzt sich eine Gruppe von Schüler*innen des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums Gütersloh mit dem erinnerungskulturellen Hintergrund von Straßennamen auseinander und stellt infolgedessen einen Antrag auf Umbenennung des „Nettelbeckwegs“. Dies geschah auf Grundlage der Richtlinie zur Benennung von Straßen, Wegen und Plätzen in Gütersloh vom 1. Juli 2021 Ziffer 4.5. In der Sitzung am 09.04.2024 beschloss der Ausschuss für Kultur und Weiterbildung der Stadt Gütersloh die Beibehaltung des bisherigen Namens. Stattdessen soll zukünftig eine Infotafel am Straßenschild über die Hintergründe von Joachim Nettelbeck informieren.

Die Benennung von Straßen nach Persönlichkeiten ist immer eine Ehrung Ihrer Taten und/oder ihrer Person. Die Benennung einer Straße nach Nettelbeck ist daher auch zukünftig kritisch zu betrachten, da sie seinen Nationalismus, seine Verstrickung in den Sklavenhandel und die von ihm geförderte koloniale Gewalt verharmlost. Angesichts eines solchen Hintergrunds ist Nettelbeck als Vorbild ungeeignet. Die kritische Auseinandersetzung mit seiner Person ist Teil einer Aufarbeitung der deutschen National- und Kolonialgeschichte.

Text: Julia Kuklik, Urs Lindner, Lilian Wohnhas

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